Generative KI für die Versicherungswirtschaft: Datenarme Anwendungsfälle

Generative KI für die Versicherungswirtschaft : Datenarme Anwendungsfälle

  • Dr. Oliver Hüfner
  • Published: 13 November 2024

 


Jedem Nutzer1 von generativer KI erschließt sich das Neue dieser Technologie sofort: Anwendungen wie ChatGPT verstehen natürliche Sprache! Für die geschäftliche Nutzung birgt sie deshalb erhebliche Potenziale. Dies gilt vor allem dort, wo die Verwendung und das Verständnis natürlicher Sprache einen wesentlichen Teil des Geschäftsmodells ausmachen.

Die Versicherungswirtschaft ist in diesem Zusammenhang eine der einschlägigen Industrien. Ihr Produkt besteht aus einem Leistungsversprechen für den Fall, dass einem Kunden unter bestimmten Umständen ein Schaden widerfährt. Die Details regelt das sogenannte Bedingungswerk, also die Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu einem Versicherungsprodukt. Dabei handelt es sich um einen Text in natürlicher Sprache, den der Versicherungskunde mit dem Erwerb des Produkts als Vertragsbestandteil akzeptiert. Natürliche Sprache bleibt auch in der weiteren Beziehung zwischen Versicherung und Versichertem konstitutiv. Tritt etwa auf Seiten des Versicherten ein Schaden ein, so meldet ihn dieser – in natürlicher Sprache. Folgerichtig ist auch zur Bearbeitung einer Schadenmeldung das Verständnis natürlicher Sprache auf Seiten der Versicherung essenziell. Eine effiziente Gestaltung des Schadenprozesses schafft immense Kosten- und Wettbewerbsvorteile. Deshalb kann die Bedeutung einer Technologie, die natürliche Sprache versteht, für die Versicherungswirtschaft nicht hoch genug eingeschätzt werden. 

Vor diesem Hintergrund rücken die Bedingungen, die Voraussetzung sind für eine erfolgreiche Umsetzung generativer KI, in den Fokus. Zu diesen Bedingungen zählt unter anderem eine gemeinsame Sprache, mit deren Hilfe sich alle, die an generativer KI arbeiten, verständigen können. Rein technisch betrachtet, gibt es sie bereits. Mit Blick auf die Umsetzung konkreter Anwendungsfälle in der Praxis sehen wir dagegen noch Defizite. Dies gilt auch für ihre Klassifizierung. Nach unserer Erfahrung gibt es tatsächlich verschiedene, eindeutig voneinander abgrenzbare Typen von Anwendungsfällen generativer KI. Diese wollen wir in der vorliegenden Darstellung näher beschreiben und damit allen, die sich im Unternehmen mit generativer KI beschäftigen, eine bessere und präzisere Verständigung ermöglichen. 

 

DATENARME ANWENDUNGSFÄLLE

Der typische Anwendungsfall für den privaten Nutzer eines großen Large Language Models (Sprachmodells) von Anbietern wie OpenAI, Google oder Meta ist datenarm. Ein Beispiel: Der runde Geburtstag im Freundeskreis steht bevor und es braucht eine Rede. Der Nutzer geht auf die Webseite von ChatGPT und verwendet das dortige Sprachmodell, um die passenden Worte dafür zu finden. Von der Maschine erwartet er den Inhalt und eine Struktur des Textes. Beides muss nicht perfekt sein, aber genügend Inspiration liefern, um schnell ein präsentables Ergebnis zu erhalten. Der zugehörige Befehl an die Maschine, der im Kontext generativer KI „Prompt“ genannt wird, ist schnell erstellt. Wenn das Ergebnis beim ersten Mal noch nicht zufriedenstellend ausfällt, kann der Prompt zügig angepasst werden. Datenarm sind Anwendungsfälle dieser Art, weil der zugehörige Prompt der einzige Input ist, der für die Ausführung benötigt wird. 

Datenarme Anwendungsfälle finden sich auch im geschäftlichen Zusammenhang in unendlicher Vielfalt. Das Marketing plant eine Pressemitteilung zum bevorstehenden Firmenjubiläum. Der Vertrieb recherchiert nach den wesentlichen Meilensteinen und Herausforderungen in der Geschichte eines Firmenkunden. Der Berater fragt sich und die Maschine, wie er einen Einführungsvortrag zum Thema Sprachmodelle strukturieren kann.

Für die erfolgreiche Umsetzung der datenarmen Anwendungsfälle im geschäftlichen Zusammenhang müssen auf Seiten der Anwender zwei Bedingungen erfüllt sein. Zunächst muss der Anwender richtig prompten. Er benötigt also einen bestimmten Skill, den er erlernen und erwerben kann. Der Anwender muss außerdem urteilen können, ob das von der Maschine als Antwort auf den Prompt gelieferte Ergebnis qualitativ und quantitativ seinen Erwartungen entspricht. Wenn von „human in the loop“ die Rede ist, dann ist genau dieses Urteilsvermögen eines Nutzers gemeint. In vielen Anwendungsfällen aus dem privaten Bereich kann ein angemessenes Urteilsvermögen vorausgesetzt werden, da zur sachgerechten Beurteilung auf einen Prompt der gesunde Menschenverstand ausreichend ist. In geschäftlichen Zusammenhängen wäre es dagegen naiv, dem Nutzer ein adäquates Urteilsvermögen ohne Weiteres zuzugestehen. Vielmehr können hier auch datenarme Anwendungsfälle sehr komplex sein. Deshalb ist es häufig angeraten, professionell ausgebildete Kompetenzen nicht nur eines Nutzers, sondern einer Vielzahl von Experten aus unterschiedlichen Bereichen hinzuzuziehen. 

Ein relativ frühes Beispiel aus der Versicherungswirtschaft für einen datenarmen Anwendungsfall mit hoher Komplexität ist der Versuch, ein Bedingungswerk zu einem Versicherungsprodukt mit Hilfe generativer KI zu erzeugen.2 An diesem Beispiel lässt sich gut zeigen, wie sich die Nutzung großer Sprachmodelle bei datenarmen Anwendungsfällen auf den Prozess auswirkt. Ohne Prompting wird ein erster Entwurf, der in der Regel vom Produktmanagement einer Versicherung nach intensiver Marktbeobachtung erstellt wird, durch die zu beteiligenden Fachabteilungen getragen. Er wird dabei so zurechtgeschliffen, dass im Ergebnis alle Beteiligten das neue Bedingungswerk freigeben. 

Dieser Prozess bleibt auch durch die Einbeziehung generativer KI gleich. Es braucht nach wie vor die Beteiligung der Experten und deren Urteilsvermögen, um ein Bedingungswerk zur Marktreife zu treiben. Lediglich die Arbeit im Produktmanagement ändert sich, da mit dem Prompting ein neuer Prozessschritt Eingang in deren Aufgabenpaket findet. Dieser ermöglicht, dass Erstellungszeiten und Aufwände für einen ausreichend abgehangenen Entwurfs deutlich reduziert werden können. Im besten Fall steigt die Qualität des ersten Entwurfs durch die Einbeziehung generativer KI zudem so an, dass auch Zeitbedarfe und Aufwände im Folgeprozess und für andere Prozessbeteiligte zurückgehen.  

Die wesentliche Herausforderung datenarmer Anwendungsfälle besteht also darin, fachliches Urteilsvermögen mit der Fähigkeit zum richtigen Prompten zusammenzubringen. Capco setzt an dieser Schnittstelle zwischen Fachlichkeit und Technologie an. Ein Beispiel dafür sind Prompathons: In diesem Format arbeiten wir gemeinsam mit den Fachexperten unserer Kunden an der Lösung konkreter Business-Herausforderungen mit generativer KI. So entstehen nicht nur neue Lösungsansätze, denn die Experten lernen bei ihrer Entwicklung quasi nebenher, wie richtiges Prompten funktioniert. 

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Dann erfahren Sie im zweiten Artikel dieser Serie, wie sich datenarme von datenreichen Anwendungsfällen unterscheiden.


1 Diversity gehört zu den Kernwerten von Capco. Um Texte für sie so kurz wie möglich zu halten, lesen sie an einigen Stellen nur die männliche Form, gemeint sind jedoch ausdrücklich sämtliche Geschlechter.
2 Ein Beispiel eines solchen Versuchs für die Fahrradversicherung findet sich hier

© Capco 2024, A Wipro Company